Unverhofft kommt oft – und der Jakobsweg steckt wirklich jeden Tag aufs Neue voller Überraschungen: Aufgrund meiner Knieprobleme entscheide ich mich, die knapp 50 Kilometer bis Logroño – und damit auch bis in die Comunidad La Rioja – auf drei Tagesetappen aufzuteilen und vorher noch in Los Arcos und Viana zu nächtigen. Die Option, doch noch weiterzugehen, habe ich dann natürlich immer noch. Aber eigentlich bin ich mir schon ziemlich sicher, dass das nichts wird. Glück für mich, denn so werde ich in Viana, kurz vorm Verlassen von Navarra, noch Zeugin eines pulsierenden Stadtfestes und eine Horde Kinder applaudiert, als ich die Stadtgrenze erreiche.

Am frühen Morgen robbe ich von meinem Stockbett herunter und mache mich startklar für die nächste Wanderung. Als ich wie selbstverständlich nach meinen Flip Flops greife und hineinschlüpfen will, schaut mich Rafael tadelnd an. Nein, in denen könne ich doch nicht wirklich schon wieder gehen wollen. Gestern okay, das war ja quasi nur noch der Endspurt – aber heute? Vor mir lägen schließlich 20 Kilometer, größtenteils auf Schotterpisten. Ich weiß nicht genau wieso, lasse mich aber doch wieder weichklopfen und wechsele mein Schuhwerk noch einmal, bevor wir uns noch vor Sonnenaufgang auf den Weg machen.

Wein zum Frühstück? Kann man machen…

Kurz nachdem wir Estella-Lizarra verlassen haben, erwartet uns das groß angekündigte Highlight der Etappe: der Brunnen der Bodegas Irache. Diese haben sich nämlich einen ganz besonderen Marketing-Schachzug einfallen lassen und neben dem Trinkwasserbrunnen auch noch einen zweiten Hahn installiert, der frischen Rotwein für durstige Pilger bereithält.

Der ein oder andere Pilger hängt sich auch frühmorgens schon an den Zapfhahn oder posiert zumindest für ein paar Erinnerungsfotos. Da ich weder Wein mag noch gute Fotos in der Dunkelheit machen kann, verzichte ich auf Grinse-Selfies neben der Wunderquelle und wir setzen unseren Weg bei aufgehender Sonne fort, um in einem der nächsten Dörfer ein richtiges Frühstück aufzutreiben.

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Nach insgesamt etwa anderthalb Stunden kommen wir in Azqueta an, setzen uns auf die Terrasse der einzigen Bar und genießen die herrliche Aussicht. Der Rotwein-Brunnen als Highlight des Tages? Ganz sicher nicht, denke ich mir und freue mich über getoastetes Landbrot mit Olivenöl und Salz und einen frischgepressten Orangensaft, während wir auf den Berg neben uns blicken (über den wir glücklicherweise nicht gehen müssen, yaaay). Als mein Hintern allmählich eins mit der Sitzfläche meines Stuhls geworden ist, schaue ich Rafael grinsend an – wir haben wohl gerade das Gleiche gedacht: Zeit zum Weitergehen, vamos.

Camino Francés: In Flip Flops nach Los Arcos

Wir schaffen es bis zum Ortsausgang. Dann verfalle ich in tausend Flüche, schwinge mich auf die verlockende Bank und reiße mir die Schuhe von den Füßen. Verdammte Axt, warum gehe ich nicht einfach wie geplant in meinen Flip Flops über den Jakobsweg? Ich wiederhole die Prozedur vom vorherigen Tag, rupfe mir Socken und Pflaster von den Füßen, knote die Schuhe an meinem Rucksack fest und gehe in den Latschen weiter. Rafael guckt mich mitleidig an und scheint von meiner Erklärung, dass das WIRKLICH viel besser ist, nicht sonderlich überzeugt.

Einer der besten Aspekte, wenn man mit einem Spanier über den Jakobsweg läuft, ist definitiv, dass man viel schneller in Kontakt mit anderen Einheimischen kommt. Ich bin happy, dass ich mit Rafael einen so tollen Gesprächspartner gefunden habe – mein Spanisch ist seit meiner Zeit in Paris, in der ich ja nur mein Französisch verbessern konnte, nämlich recht eingerostet. Die Verkehrssprache auf dem Camino Francés ist aufgrund der vielen ausländischen Pilger Englisch und selbst Deutsch habe ich mittlerweile häufiger gesprochen als Spanisch. Umso cooler, dass Rafael und ich heute direkt zweimal von anderen Spaniern angesprochen werden.

Es ist mir total unangenehm, dass ich wegen meiner Flip Flops ständig in den Fokus eines jeden Gespräches gerückt werde. Klar, ich falle damit in der Tat auf wie ein bunter Vogel. Aber ich hatte eigentlich gedacht, dass ich – wie immer – einfach mein Ding mache. Und nicht, dass der gesamte Pilgerstrom ständig fragen würde, ob bei mir alles okay sei. Brauchst du Hilfe? Hier, nimm, Blasenpflaster! Ich hab noch Tape, willst du? Neeein! Die meisten „Helfer“ machen sich natürlich wirklich nur Sorgen und meinen es gut mit mir – trotzdem wird es irgendwann echt nervig.

Jakobsweg: Hitze und atemberaubende Landschaft

Der Weg an sich ist wunderschön und ich vermute, dass die endlose Meseta zwischen Burgos und León ähnlich wird. Unendliche Weite und Wiesen, die aus der Ferne in so vielen Farben strahlen, dass ich kaum glauben kann, dass wir hier in Spanien und nicht auf einem weit entfernten Kontinent sind. Die Sonne steht mittlerweile am Zenit und zum ersten Mal während meines Weges habe ich tatsächlich Schweißperlen auf der Stirn. Die letzten Kilometer ziehen sich wie Kaugummi und wenn ich nicht nach wie vor stechende Schmerzen in meinem rechten Knie hätte, würde ich vermutlich Freudensprünge machen, als Los Arcos endlich auftaucht.

In Los Arcos frage ich im Casa de Austria, einer (oh Wunder) österreichichen Herberge, ob es noch ein freies Bett gibt und jubele innerlich, als die Frage bejaht wird. Erst da wird mir bewusst, dass die Freude aber auch eine Schattenseite hat: Rafael steht hinter mir und verabschiedet sich mit Küsschen links und rechts. Es ist wirklich schade, dass ich ihn nach nur 24 Stunden allein weiterziehen lassen muss – aber nach den 20 Kilometern des Tages geht absolut gar nix mehr und Rafael ist nur eine Woche auf dem Camino unterwegs und ist bei der Etappenplanung entsprechend weniger flexibel. Ich bedanke mich noch ausgiebig und kann es gar nicht wirklich in Worte fassen, wie viel mir seine Hilfe am Vortag bedeutet hat.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf und fühle mich erstaunlich fit. Der Schlafsaal ist Camino-Standard und weit entfernt von jeglichem möglichen Luxus. Trotzdem habe ich gut geschlafen, die Dusche am Abend und das Entspannen im gemütlichen Innenhof waren super und ich bin sogar in den Genuss einer hosteleigenen Massage auf Spendenbasis gekommen. Grinsend schüttele ich den Kopf und blicke ins Bett unter mich. Wie das Schicksal eben manchmal so will, kam am Nachmittag noch der Franzose in den Raum, vor dem Rafael und ich am Vortag „geflüchtet“ waren.

Und natürlich bekam er auch das Bett unter mir. Ein freundliches Hallo hat er selbstverständlich erhalten – mehr aber auch nicht. Zu groß die Angst, dass er hinterher mit mir weitergehen möchte. Ich überlege kurz, ob das nicht irgendwie arschlochig von mir ist. Ja, vielleicht ein bisschen. Und obwohl ich mir eigentlich nichts vorzuwerfen habe, fühle ich mich fast etwas schlecht, als ich beim Frühstück das leckere selbstgebackene Brot nach österreichischem Rezept futtere und weiter darüber nachdenke. Naja, that’s life. Und besagter Franzose fällt ganz definitiv so stark in die Kategorie Weirdo, dass jegliches Gespräch meinerseits nur aus Mitleid wäre. Und Dinge, die man nur aus Mitleid macht, sind ja irgendwie auch scheiße. Oder?! Ach shit, Gewissensbisse.

Bevor ich weiter über dieses Dilemma nachdenken kann, schlüpfe ich in meine Flip Flops, setze meinen Rucksack auf und husche wie jeden Morgen noch bei Dunkelheit aus der Herberge. Schön, wenn einem niemand das Schuhwerk ausreden kann, haha. Von Los Arcos nach Viana sind es wieder knapp 20 Kilometer, aber irgendwie gehen sie erstaunlich schnell vorüber. Die Landschaft mit den weiten Feldern und Weinbergen gefällt mir ausgesprochen gut, es gibt keine sonderlich erwähnenswerten Aufstiege und dank der kleinen Städte und der recht häufig aufgebauten Verpflegungsstände am Wegesrand kann ich mich (viel zu) oft mit Kaltgetränken eindecken.

Eigentlich hätte ich beim besten Willen nicht mit dieser Infrastruktur entlang des Jakobswegs gerechnet und finde sie teilweise auch etwas befremdlich, da ich mich vor meiner Reise gedanklich darauf eingestellt hatte, durch die Natur zu gehen und nicht ständig Getränkeautomaten und Co. zu finden. Aber hey, bei kalter Cola kann ich nicht widerstehen. Und irgendein Laster darf man jawohl noch haben, oder? Du merkst schon, ich bin selbst eigentlich auch der Meinung, dass ich meinem Cola-Konsum einen Riegel vorschieben sollte…

Es ist noch nicht einmal 12 Uhr, da passiere ich schon den Ortseingang von Viana – und werde direkt überrascht. Auf einem hohen Gatter sitzen fünf oder sechs kleine, niedliche Kinder in rot-weißer Kleidung, applaudieren mir und beglückwünschen mich dazu, dass ich die nächste Stadt erreicht habe. Wie süß. Ich bedanke mich freudestrahlend und mache mich auf die Suche nach der Herberge Andrés Muñoz, in der ich nächtigen möchte.

Auf dem Weg dorthin kommt mir aber noch eine riesige, laute Parade entgegen, die von einem grünen Drachen angeführt, von vielen begeisterten Kids begleitet und von einem DJ im Piratenkostüm abgeschlossen wird. Überall am Straßenrand sitzen Einheimische wie Pilger in den Bars, die Stimmung ist ausgelassen.

Na, das nenne ich doch mal einen angemessenen Empfang meiner Wenigkeit, haha. Als ich an der Herberge ankomme, ist es immer noch nicht 12 Uhr, die Tür ist noch verschlossen und da auch sonst noch niemand da ist, eröffne ich die Warteschlange. Ein paar Minuten später habe ich für 5 € mein Bett und bin frisch geduscht.

Leider finde ich keine Decken, also richte ich mich innerlich schon einmal darauf ein, mal wieder in Leggings, Socken und… Ach shit. Mir fällt ein, dass am Morgen der Reißverschluss meiner geliebten Fleecejacke kaputtgegangen ist. Nach so vielen gemeinsamen Jahren wird mir das blöde Ding ausgerechnet jetzt abtrünnig. Nun gut, dann wird es nachts eben mal wieder etwas kalt, passiert.

Viana: Stierhatz auf dem Jakobsweg

Am Nachmittag sitze ich im Aufenthaltsraum am Laptop, erledige etwas Arbeit und gebe noch eine Stunde Deutschunterricht. Zum Mittagessen hatte ich endlich mal wieder ein leckeres vegetarisches Essen (keine Patatas, juchuuu!) gefunden. Eigentlich war es nur ein Teller Linseneintopf – aber nun ja, die Ansprüche fallen rapide. Das Glas Sangria und der dicke Beutel mit Eiswürfeln für mein Knie haben ihr Übriges getan und ich bin erstaunlich fit. Plötzlich höre ich eine Blaskapelle, die… Moment… Klar, „Despacito“ erkenne ich sofort. Es wird dringend Zeit herauszufinden, was hier heute eigentlich abgeht.

Bei einem erneuten Spaziergang durch die Stadt wird mir schnell klar, was Sache ist: Das Gatter, auf dem die ganzen Kinder am Vormittag saßen, war eine mobile Stiefkampfarena! Ich war so verwirrt von dem tobenden Stadtfest, dass ich das überhaupt nicht realisiert hatte. Wenn man schon mal da ist und die Möglichkeit hat, so etwas mitzuerleben, kann man sich das natürlich nicht entgehen lassen – auch wenn ich von dieser Tradition absolut gar nichts halte.

Fazit: Die Tiere wurden nicht getötet, sondern nur von einigen Halbstarken mit Profilierungsdrang hin- und hergejagt. Als dann hinterher die größte Straße der Innenstadt abgesperrt und mit Eisengittern versehen wurde, um die Stiere noch mehr durch die Gegend zu jagen, bin ich gegangen. Keine Ahnung, der Sinn ergibt sich mir partout nicht (auch wenn ich genau das natürlich in meinem Spanisch-Studium gelernt habe) und die Stiere, die schon Schaum am Maul hatten, taten mir einfach nur leid, während mich das proletenhafte Getue manch eines Partizipanten mega genervt hat.

 

Gespannt, wie es weitergeht? Hier geht’s zum neunten und zehnten Teil.

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