Simon und ich brechen früh am Morgen in Gijón auf. Nach einer wunderschönen Woche Urlaub am Meer geht es dahin zurück, wo unsere gemeinsame Reise begonnen hat: in Ledigos auf dem Jakobsweg. Dort, wo ich mich vor genau einer Woche von meiner Wanderbegleitung Steve verabschiedet habe, nehme ich nun den Camino Francés wieder auf und habe noch etwa 370 Kilometer bis Santiago de Compostela vor mir. Weniger als die Hälfte. Trotzdem bin ich unglücklich, denn die Einsamkeit auf dem Weg frisst mich schon nach kürzester Zeit auf und ich fühle mich so verlassen wie noch nie.
Eigentlich müsste ich froh sein: Simon hat auf den ersten Blick gemerkt, dass ich in den ersten Wochen auf dem Jakobsweg bereits abgenommen habe, krass braun geworden bin und vor innerer Freude strahle. All das gibt mir unglaubliche Motivation für die zweite Hälfte des Caminos und ich habe mich selten so glücklich gefühlt wie in dieser eigentlich doch sehr entbehrungsreichen Zeit.
Dennoch fühle ich mich gerade schrecklich, denn ich verabschiede mich in Ledigos mit einem dicken Kloß im Hals. Simon fährt mit dem Auto zurück zum Flughafen, ich winke noch gefühlt hundertmal und muss mich kurz zusammenreißen, als ich mich umdrehe und losgehe. Mitten in dem winzigen Dorf stehe ich nun ganz allein. Kein Simon. Kein Steve. Es bleibt aber nicht viel Zeit zum Traurigsein, denn es ist schon fast mittags und ich möchte zumindest noch die 17 Kilometer bis Sahagún schaffen.
Bevor ich aufbreche, schaue ich noch einmal in der Herberge vorbei, in der Steve vor einer Woche übernachtet hat. Am Morgen nachdem wir uns verabschiedet hatten, bekam ich nämlich eine Nachricht von ihm: „Habe die ‚Caramel Pants‘ in der Herberge vergessen und einen Handschuh in der Dunkelheit verloren – damit habe ich heute gleich zwei Dinge verloren. Drei sogar, wenn ich dich als meine Weggefährtin dazuzähle“ – Also frage ich in der Albergue nach und hoffe, dass wir zumindest die Jogginghose wiederfinden. Aber nein, niemand hat sie gesehen, in der Lost-and-Found-Kiste findet sich nur eine verwaschene, schlabbrige Leggings.
Jakobsweg: Von Ledigos nach Sahagún
Zuerst rede ich mir selbst noch gut zu – muss aber schnell feststellen, dass das alles nicht viel nützt. Eigentlich mag ich die Meseta zwischen Burgos und León wirklich gerne, doch heute kann ich mich weder an den schönen, weiten Landschafen noch an der herrlichen Ruhe des Jakobsweges erfreuen. Besonders frustrierend: Ich werde noch vier Tage brauchen, bis ich in León ankomme.
Und das, obwohl ich am Morgen mit Simon die gleiche Strecke in Gegenrichtung in etwa einer halben Stunde im Auto zurückgelegt habe. Ich weiß also in etwa, was auf mich zukommt. Wüste – nichts als Wüste. Simon hätte mich am liebsten direkt in León rausgelassen. Aber das wäre ja Mogelei gewesen, schließlich will ich den gesamten Camino Francés gehen. Also mache ich an exakt der Stelle weiter, an der ich vor einer Woche aufgehört habe.
Schon als ich Ledigos verlasse, fühlt es sich kaum noch so an, als wäre ich gerade im Urlaub gewesen. So schnell geht es also, dass einen der Camino bereits wieder gefressen hat. Richtung Terradillos de los Templarios muss ich mal wieder eine Straße überqueren, frage mich aber allmählich, wieso ich im Vorfeld so viel von gefährlichen Straßen und mörderischem Verkehr auf dem Jakobsweg gelesen habe.
Bisher war es nicht einmal ansatzweise gefährlich und es gibt selbst auf den großen Straßen so wenige Autos, dass Trampen ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Ganz zu schweigen davon, überfahren zu werden. Da müsste man schon echt eine üble Trefferquote haben.
Camino Francés: Auf dem Weg nach Terradillos de los Templarios
Noch bevor ich Terradillos de los Templarios überhaupt erreiche, tun mir die Füße weh. Allmählich frage ich mich, wieso ich immer wieder so blöd bin und mich in meine Schuhe quetsche. Als Simon und ich am Morgen in Gijón aufgebrochen sind, habe ich noch kurz überlegt, dann aber doch Wandersocken und Sportschuhe angezogen.
Dabei weiß ich doch nach etwa 400 Kilometern allmählich, dass es in meinen Gummilatschen viel besser funktioniert – aber offenbar habe ich das innerhalb von einer Woche schon wieder verdrängt. Nun ja. Was soll ich mich groß über mich ärgern. War halt dumm, wechsele ich mein Schuhwerk eben später wieder.
Ich bin kurz vor Moratinos, als ich das gesamte Unterfangen anzweifle. Verdammte Scheiße, warum mache ich das bloß? Ist doch irgendwie alles kacke. Gerade einmal sechs Kilometer habe ich bisher geschafft und ich habe absolut gar keinen Bock mehr. Die Meseta ist an dieser Stelle förmlich ausgestorben und ich sehe maximal im Halbstundentakt einen anderen Pilger. Mensch, ich könnte jetzt auch irgendwo im Whirlpool sitzen. Oder am Strand liegen. Oh ja, das wäre schön.
Jakobsweg: Don’t stop me now!
Hmm, theoretisch könnte ich das sogar machen. Ich müsste mich nur in den Bus setzen und in Spaniens Süden fahren. Die Fähre nach Marokko zu nehmen fällt leider raus, denn ich habe meinen Reisepass nicht dabei. Aber vielleicht an die Algarve? Nein, nein, nein. Caro, hör auf mit dem Scheiß und geh weiter! Reiß dich zusammen! Jetzt aufzugeben ist überhaupt keine Option!
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Auf einem Stop-Schild am Weg hat jemand ein paar Worte dazugemalt und ein „Don’t stop me now!“ blickt auf mich herab. Schicksal? Mal wieder? Wer weiß. Aber ja, es stimmt. Hier wird jetzt nicht gestoppt, Caro! Weitergehen! Denk doch mal drüber nach, wie stolz du in ein paar Wochen sein wirst, wenn du sagen kannst, dass du diese ganze endlose Meseta zu Fuß gegangen bist. Wenn das kein Ansporn ist, was dann?
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in Moratinos zu essen. Für die Spanier ist es zwar noch viel zu früh für ein Mittagessen, aber ich als brave Deutsche kann manchmal durchaus um Punkt 12 eine warme Mahlzeit vertragen. Normalerweise ist das entlang des Jakobswegs auch kein Problem, denn die Gastronomen des Caminos sind tagsüber meist auf hungrige Pilger eingestellt. Wenn es denn welche gibt. Heute wandere ich aber durch eine Geisterstadt: Moratinos ist komplett verlassen und ich sehe weder Einheimische noch Pilger. In dem Restaurant brennt ein zaghaftes Licht, von Menschen gibt es allerdings keine Spur. Nee, ich fühle mich eh schon so einsam – da muss ich nicht auch noch vollkommen verlassen mein Mittagessen zu mir nehmen.
Camino Francés: Außergewöhnliches Mittagessen in San Nicolás
Mir knurrt total der Magen und ich würde mich auch gerne setzen, um endlich die doofen Schuhe loszuwerden. In der staubigen Meseta gibt es heute wirklich gar nichts, nicht einmal eine Sitzgelegenheit. San Nicolás del Real Camino ist nur zwei Kilometer entfernt. Die schaffe ich doch wohl noch. Und hoffentlich gibt es dort dann auch ein paar Menschen. Auf dem Weg sehe ich ein windschiefes Schild, das mit einem lustigen Spruch für eine Bar wirbt. Ich muss lachen über diese perfekt platzierte Werbung und nehme mir vor, dass ich wirklich dort essen gehe. Der Werbung zu vertrauen, hat ja vor Kurzem schon einmal hervorragend geklappt.
„I know that I know nothing – but the 2nd bar is cool!“ (Socrates)
Als ich in San Nicolás ankomme, weiß ich allerdings auch, wieso diese ominöse „zweite“ Bar Werbung dringend nötig hat: Am Ortseingang thront ein riesiges Restaurant mit herrlich einladendem Garten. Kurz mal abwägen… Schöner Garten, gute Sitzgelegenheiten, anwesende Menschen, weniger Weg bis zur Pause… Ja, die Entscheidung fällt nicht sonderlich schwer und ich setze mich ins Casa Barrunta. Aus meinem zuerst gewünschten deftigen Mittagessen wird ein Schokoküchlein mit flüssigem Kern. Keine sonderlich empfehlenswerte Hauptmahlzeit, aber als ich den ersten Bissen nehme, weiß ich schon, dass die Entscheidung die richtige war. Man, ist das lecker!
Bevor ich weitergehe, reiße ich mir noch schnell die Schuhe von den Füßen und ziehe kopfschüttelnd meine Sandalen an. Ich Trottel – ich habe doch eigentlich schon vor langer Zeit gemerkt, wie es richtig für mich ist! Um mich herum sitzen einige andere Pilger, aber auch das gefällt mir gerade gar nicht, denn es sind ausschließlich Deutsche. Es ist ja nicht so, dass ich meine eigenen Landsleute nicht mag, aber wenn ich auf Reisen bin, halte ich mich am liebsten von ihnen fern.
Erstens möchte ich einfach voll und ganz das Gefühl haben, weit weg von zu Hause zu sein – Fremdsprachen sprechen, mit Einheimischen quatschen. Und zweitens sind mir die Deutschen oft einfach auch zu nöselig. Okay, heute ist wirklich nicht der richtige Tag, um mich darüber zu beschweren. Denn heute bin ich die Nöseligkeit in Perfektion. Außer es gibt Schokokuchen. Dann ist alles in Ordnung, haha.
Jakobsweg: Endspurt nach Sahagún
Im Vorbeigehen sehe ich die „zweite“ Bar, die zur Albergue Laganares gehört – und ärgere mich ein bisschen, dass ich nicht hier gegessen habe. Die Herberge ist veggie und öko, es läuft sogar stimmungsvolle Musik, die die Stille im ansonsten viel zu ruhigen Dorf durchdringt. Der Kuchen im Casa Barrunta war superlecker, aber wenn ich den Jakobsweg nochmal gehen sollte (oh Gott, habe ich das gerade wirklich gedacht?!), würde ich mich unbedingt an einen der rot-weiß-karierten Tische setzen!
Der restliche Weg bis nach Sahagún ist noch einmal richtig ätzend. Kurz hinter San Nicolás muss man eine Autobahnbrücke umgehen. Ich schaue skeptisch nach links, wo der Camino weiterführt. Sahagún ist doch geradeaus, oder? Ja. Und dort führt eigentlich auch der Weg entlang. Hmm. Vermutlich muss ich einfach nur unter der Brücke durch und soll dafür einen kompletten Umweg außenrum in Kauf nehmen. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, einfach an der Leitplanke entlangzugehen. Dann bin ich mir doch nicht sicher, ob der Jakobsweg vielleicht doch etwas anders verläuft und ich eventuell gleich wieder umdrehen muss.
Camino Francés: Rastplatz vor Sahagún
Als ich nach einigen Minuten auf der anderen Seite der Brücke stehe und sogar noch in etwa fünfzig Metern Entfernung den Punkt sehen kann, an dem ich mit der Abkürzung geliebäugelt habe, wundert mich das irgendwie nicht sonderlich. War ja irgendwie zu erwarten. Oh Mann. Es geht also tatsächlich noch sehr weit an dieser blöden Straße entlang. Latschi, latschi, latsch. Bei der prallen Mittagssonne kommt mir ein Rastplatz kurz vor Sahagún sehr gelegen und ich setze mich nochmal für ein paar Minuten in den Schatten, bevor ich mich endgültig zum Endspurt aufmache.
Die Ankunft in Sahagún könnte kaum schrecklicher sein und für mich reiht sie sich in die Ereignisse eines durch und durch frustrierenden Tages ein. Ich erreiche die Stadt über richtig hässliche Bahnschienen und auch Sahagún selbst sagt mir absolut gar nicht zu. Vielleicht bin ich heute generell nicht die beste Person, um irgendetwas objektiv zu bewerten, aber schön ist es hier echt nicht. Am zerfallenen Ortseingang lässt eine Spanierin ihre Hunde mitten auf den Weg kacken und ruft ihnen nur ein gelangweiltes „Vamos“ zu, was dann wohl so viel heißt wie „Kackt den Pilgern mal bitte etwas schneller vor die Füße, ich will weiter!“
Jakobsweg: Sahagún, ich habe leider kein Foto für dich
Auch später finde ich in der Stadt nichts, was mich irgendwie aufheitern könnte. Hässlich. Ja, das ist wirklich das einzige Wort, das ich gerade mit Sahagún verbinden kann, hier flasht mich irgendwie überhaupt nichts. Selbst der Empfang in der Albergue Municipal de los Peregrinos de Cluny ist ziemlich kühl. Die Herberge befindet sich unter dem Dach einer alten Kirche, besteht aus einem einzigen Raum und die Hospitalera, die mich irgendwann begrüßt, tut dies mit der eleganten Abfertigungsstrategie eines Beamten, der den ganzen Tag kein Wort redet und pausenlos Dokumente stempelt. Vielleicht hat sie auch einen schlechten Tag.
Frustriert und traurig sitze ich in einer Bar vor der Herberge und trinke den ein oder anderen Sangria. Ich weiß, Alkohol ist auch keine Lösung. Aber irgendwie ist mir gerade nach einem kleinen Schwips und ich schreibe ein paar Leuten zu Hause, um mich daran zu erinnern, dass diese aktuelle Einsamkeit kein Dauerzustand sein wird. Auch wenn Simon, Steve und viele andere mich mit Nachrichten zumindest etwas aufheitern können, fühle ich mich so einsam, dass ich mich am liebsten einfach nur auf meinem Bett einrollen und weinen möchte.
Gespannt, wie es weitergeht? Hier findest du Etappe 22 und 23!