Bevor ich meinen Weg nach Astorga starte, sitze ich in der Albergue Verde in Hospital de Órbigo und starre auf meinen Wanderführer. Ich habe ihn seit Wochen nicht wirklich benutzt, denn eigentlich will ich gar nicht genau wissen, was mich auf dem Weg erwartet. Die Markierungen kann man eh nicht verfehlen und zumindest für den Camino Francés kann ich mittlerweile sagen, dass man nicht wirklich einen Reiseführer braucht. Also mache ich etwas, das ich noch nie gemacht habe: Ich zerreiße ein Buch, stecke mir die Seiten mit Höhenprofilen und Unterkünften in den Rucksack, schmeiße die restlichen 95% weg und mache mich auf den Weg.

Eigentlich bedeutet das nicht viel, aber irgendwie ist es ein tolles Gefühl. Ich schaffe diesen Weg auch ganz alleine. Ohne tägliche Planung und ohne für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Einfach weitergehen. In Hospital de Órbigo habe ich viel zu lange geschlafen, denn in unserer total relaxten Herberge war niemand auf die Idee gekommen, sich einen Wecker zu stellen. Zum Frühstück gab es ein leckeres, gehaltvolles Frühstück mit Müsli, Trockenfrüchten und fettem Joghurt – welches ich allerdings nicht so ausgiebig genießen konnte, da wieder der gruselige Amerikaner neben mir saß und mir etwas von seinen hübschen Töchtern erzählte, die in etwa genauso hübsch seien wie ich. Wobei ich ja noch etwas ganz Besonderes sei. Kotz.

Nach meinem spirituellen Erlebnis in Hospital de Órbigo will ich meine Ruhe haben und entscheide mich deshalb paradoxerweise für den Weg, der an der Nationalstraße entlangführt. Die ist zwar hässlich und dank des Verkehrs keineswegs ruhig, aber mir begegnen kaum andere Pilger, da fast alle die Alternativroute nehmen. Mein Plan geht auf: Auch wenn mich die Straße etwas nervt, kann ich das gut ausblenden und habe tatsächlich meine Ruhe. Man kann halt nicht alles haben.

Auf jeden Fall bin ich froh, dass ich besagten Amerikaner offenbar abhängen konnte. Wer weiß, wahrscheinlich folgt er auch der Alternativroute – was wirklich wünschenswert wäre, denn allmählich finde ich das alles echt etwas spooky und hoffe, dass ich ihm nicht nochmal begegnen muss. Aber das weiß man auf dem Camino nie so genau, denn letztendlich haben alle das gleiche Ziel und man sieht sich meist irgendwo wieder.

Jakobsweg: Landschaftlicher Totalausfall auf dem offiziellen Weg

Der ursprüngliche Jakobsweg ist landschaftlich echt mies und es gibt auch nichts, wo man für eine kleine Pause anhalten könnte. Da ich nicht genau weiß, was mich noch so erwartet, überquere ich die Nationalstraße, husche von Fahrstreifen zu Fahrstreifen – und stehe vor einer Tankstelle. Verschnaufpausen an Tankstellen sind nicht unbedingt die beste Möglichkeit für eine Rast, denn erstens ist die Aussicht hässlich, zweitens ist es laut und drittens gibt es nur mittelmäßige Snacks.

Also entscheide ich mich für ein mega gesundes zweites Frühstück, bestehend aus einer kleinen Tüte Chips und einer Cola. Und da ich Trottel die Dose mit dem „Cancún“-Schriftzug nehmen muss, um Simon ein Foto zu schicken (dort startet nämlich bald unsere Weltreise), übersehe ich auch noch, dass es sich um die Light-Plörre handelt. Na toll.

Camino Francés: Wie neugeboren auf dem Jakobsweg

Nachdem ich mich im Schatten von mehreren LKW auf einem Plastikstuhl etwas ausgeruht habe, gehe ich weiter und bin echt erstaunt über meine Kondition. Den Füßen geht es super, mein Rücken fühlt sich gestärkt und ich habe eine unbändige Energie. Bilde ich mir das alles nur ein oder liegt es eventuell sogar wirklich an dem Hokuspokus vom Vortag? Letztendlich ist es ja auch egal. Jetzt, wo ich endlich mal alleine bin, lasse ich meiner übermäßig guten Laune freien Lauf und trällere vor mich hin, was die Stimmbänder hergeben.

Um nach Astorga zu kommen, muss ich einen kleinen Hügel überqueren, wo dann auch wieder die beiden Wege zusammenlaufen – was man auch direkt an der Masse an Pilgern festmachen kann. Oben auf dem Hügel steht ein Kreuz, das von allen als begehrtes Fotomotiv benutzt wird. Kein Wunder, denn der Himmel ist in ein kräftiges Blau gehüllt und ganz weit hinten am Horizont kann man gegen Mittag immer noch den Mond erkennen.

Aus der Gegenrichtung kommt ein Pilger, der mir auf meine verdutzte Nachfrage erzählt, dass er den Camino andersrum geht und dann irgendwann in Nordfrankreich rauskommen möchte. So genau weiß er das aber auch noch nicht. Wir unterhalten uns kurz, ich bin total fasziniert von seinem Vorhaben, bitte ihn um ein Foto von mir und freue mich, dass er sogar beim ersten Versuch ein wunderschönes Bild auf mein Handy zaubert. Wir verabschieden uns und jeder geht seines Weges.

Camino Francés: Pilgermusik auf dem Jakobweg nach Astorga

Als ich mich an den Abstieg mache, klingt kratzige Gitarrenmusik über den Hügel. Auf einer Mauer sitzt ein etwas verlotterter alter Mann und singt Pilgerlieder. Nicht sonderlich gut, dafür passt es aber in die Stimmung und ich krame im Gürtelfach meines Rucksacks nach etwas Kleingeld. Generell gebe ich Straßenmusikern gerne etwas und hier auf dem Camino habe ich schon einige Male ein paar Münzen in einen aufgestellten Hut geworfen.

Ich gebe ihm einen Euro, er stempelt mir mit zittrigen Händen und dreckigen Nägeln einen Stempel mit Gitarrenmotiv in meinen Pilgerpass und stimmt daraufhin sein Lied „Alemania peregrina“ an, das ich auch noch höre, als ich fast am Fuße des Hügels angekommen bin. Hoffen wir einfach mal, dass er das Geld nicht in Alkohol investiert. Da bin ich mir gerade nämlich nicht so sicher.

Obwohl ich Astorga schon vom Hügel aus sehen konnte, zieht sich der Weg dorthin extrem weit. Um die Bahnschienen zu überqueren und die Stadt zu erreichen, muss man über eine lustige Brücke, der ich die Bezeichnung „Pilgerachterbahn“ gebe – denn genau so sieht sie irgendwie aus. Etwas nervig, denn man geht im Zickzack hoch und im Zickzack auch wieder runter, bekommt dafür aber auch einen tollen Ausblick vom höchsten Punkt aus. Bahnschienen am Ortseingang kenne ich ja schon aus Sahagún – hier in Astorga sieht das Ganze aber deutlich schöner aus.

Jakobsweg: Stadt – ja oder nein?

Trotzdem habe ich irgendwie nach wie vor keine Lust auf eine größere Stadt. Die Ruhe der letzten Tage hat mir so gut gefallen und im nächsten Ort gibt es wieder eine vegetarische Herberge. Um diese rar gesäten Exemplare zu finden, hängen in vielen Herbergen und an vielen Info-Punkten nämlich Listen, auf denen alle Unterkünfte aufgeschrieben wurden, die vegetarische oder vegane Gerichte anbieten. Das sind zwar nicht so viele und man kann seinen Weg nicht immer dahingehend planen, aber wenn die Möglichkeit besteht, sollte man sie nicht auslassen. Schließlich gibt es überall anders schon genug Patatas und Spiegeleier.

Da ich mir trotzdem noch etwas unschlüssig bin, starte ich erstmal den Aufstieg ins Herz von Astorga. Es geht über eine kurze Straße sehr steil nach oben und ich beschleunige meinen Schritt, um schnell oben anzukommen. Als das geschafft ist, bin ich mir aber sicher: Nee, das ist nicht das Richtige. Ich habe immer noch absolut keinen Bock auf Stadtfeeling.

Camino Francés: Jakobsweg nach Murias de Rechivaldo

Also mache ich mich auf den Weg nach Murias de Rechivaldo, wo sich die nächste vegetarische Herberge befinden soll. Dorthin sind es nur noch ein paar Kilometer und ich fühle mich sowieso noch fit genug für ein bisschen mehr Strecke. Also verlasse ich Astorga so schnell, wie ich angekommen bin, und befinde mich wenige Minuten später schon wieder irgendwo im Nirgendwo.

Ich checke schnell in der Herberge in Murias ein, lege meine Sachen auf meinem Bett ab, gehe duschen, melde mich für das vegetarische Abendessen an und begebe mich in die Bar Cris, wo schon viele Pilger auf der Terrasse sitzen und futtern. Auf meinem Teller landen Patatas Bravas, sogar ziemlich gute. Bravas gehören in Spanien eigentlich zu meinen Lieblingsessen – allerdings kann ich sie mittlerweile auch nicht mehr sehen und sage mir einfach, dass es am Abend ja etwas Besseres gibt.

Camino Francés: Barfuß über den Jakobsweg

Nach der Dusche sehen meine Füße gleich viel besser aus. Während sie während des Gehens tagsüber echt etwas (sehr) geschunden wirken, erkennt man davon nun kaum noch etwas. Die dicken Blasen, die ich mir direkt am Anfang des Caminos gelaufen hatte, sind komplett verheilt. Und auch sonst kann ich mich nicht beklagen. Die Schnallen auf meinen Gummilatschen haben dummerweise so eine kleine Naht, die bei langem Marschieren scheuern und sich in die Haut fressen.

Seit ich die Stellen aber gut abklebe, ist alles in Ordnung. Ich lege die Füße hoch, wackele belustigt mit den Zehen und freue mich, dass ich so gut vorankomme. Außerdem kann ich mittlerweile wirklich nicht mehr bestreiten, dass ich barfuß gehe – meine Füße sind knackig braun und haben die weißen Konturen der Riemchen vermutlich für immer abonniert.

Das Casa Rural Las Águedas* ist ein wunderschönes Hotel mit ebenfalls guter Herberge mit einem sehr gemütlichen Innenhof und einer kleinen Bar. Hier setze ich mich am Nachmittag in die Sonne und arbeite noch etwas an meinem Laptop. Ich muss endlich mal die ganzen Fotos vom Jakobsweg synchronisieren und sichern – und meine Notizen auf Vordermann bringen, damit ich hinterher nicht wieder alles vergessen habe. Mein Gehirn arbeitet bei so kleinen Details zwar erstaunlich gut, aber ich bin mir sicher, dass ich nicht jede Kleinigkeit und jede lustige Geschichte behalten würde.

Vegetarisches Dinner auf dem Camino Francés

Die Hospitaleros in der Albergue sind klasse und als ich am Abend in den Speisesaal komme, ist der Tisch bereits schön gedeckt. Es gibt eine cremige Gemüsesuppe, herzhafte Crêpes und einen leckeren Nachtisch. An dem Tisch sitzen unter anderem eine Französin, die nur Französisch kann, und eine Katalanin, die nur Spanisch und Katalanisch spricht – wodurch ich direkt zur Dolmetscherin in alle Richtungen befördert werde. Das führt unweigerlich dazu, dass ich den höchsten Redeanteil habe und die Geschichten vom Camino in diverse Sprachen übersetze. Bei meinen eigenen Erzählungen fällt mir vor allem eins auf: In nahezu allen Geschichten spielt Steve eine Rolle.

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Es ist ja nicht so, dass ich ohne ihn nichts erlebt habe, aber ganz offensichtlich ist mir diese Zeit am meisten im Gedächtnis geblieben. Ja, er fehlt mir tatsächlich ganz schön. Klar, Simon fehlt mir auch. Aber da wusste ich von vornherein, dass es mal wieder ein Vermissen auf Zeit ist und wir uns hinterher wiedersehen und uns noch genauso lieb haben wie vorher. So war es nämlich bei jeder meiner Reisen.

Bei Steve ist es aber anders, denn ich hätte ihn genau jetzt gerne wieder an meiner Seite – wir waren so ein gutes Wanderteam und obwohl ich den Jakobsweg ja bewusst allein gestartet bin, wäre er der Einzige, mit dem ich es mir gut hätte vorstellen können, gemeinsam bis nach Santiago zu gehen. Aber so ist das eben. Es geht ja auch allein ganz gut voran und ich habe keinen Zweifel daran, dass auch der nächste Tag wieder ein guter Tag wird.

 

Gespannt, wie es weitergeht? Hier findest du Etappe 27 und 28!

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